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Von Prof. Dr. Thomas Klie

Goethe: "Ein alter Mann ist stets ein König Lear"

Das Titelthema der Alternovumausgabe 2/2024 "Mensch und Kultur" inspirierte den Autor, sich als Gerontologe mit der berühmten Shakespeare-Figur eines alternden Herrschers und modernen Bühnenadaptionen des Schauspiels auseinanderzusetzen.

Links: König Lear und seine Töchter. Fotografie von Julia Margaret Cameron, 1872; Rechts: Erste Folio-Ausgabe von King Lear, 1623

Links: König Lear und seine Töchter. Fotografie von Julia Margaret Cameron, 1872; Rechts: Erste Folio-Ausgabe von King Lear, 1623

Freiburg, Berlin, Starnberg, 29. September 2024

„König Lear“ gehört zu den berühmtesten und zugleich tiefgründigsten Tragödien Shakespeares. Es ist eine exemplarische Darstellung von Generationenkonflikten, familiären Machtkämpfen – mit Edmund, dem brillanten Schurken, wie es Peter Sloterdijk formuliert. Und es ist ein Stück der Intrigen und der extremen Emotionen, die freigesetzt werden: Liebe und Hass, Angst und Wahnsinn. Die Handlung ist hinlänglich bekannt: König Lear will sein Reich unter seinen drei Töchtern aufteilen – und zwar nach dem Maß ihrer Vaterliebe, die sie um die Wette bekunden sollen. Regan und Goneril überbieten sich in ihren Liebesbezeugungen, die jüngste Tochter erklärt schlicht ihre Liebe. König Lear lässt sich von den Liebesschwüren seiner beiden älteren Töchter täuschen, wird entmachtet und für unzurechnungsfähig gehalten: Eine durchaus aktuelle Parallele zu manchen Herrschern lässt sich nicht negieren.

Das Stück ist vierhundert Jahre alt. Damals wusste man noch nichts von der Diagnose Demenz, die König Lear heute gern zugeschrieben wird – auch in Theaterinszenierungen. Der Schauspieler Simon Russell Beale, der so wunderbar den alten shakespeareschen König Lear verkörpert, verkündigt nach einer privaten Recherche, er wisse nun den Grund für Lears Wutausbrüche: „König Lear hat Lewy-Body-Demenz.“ Auch in Peter Steins Inszenierung mit Klaus Maria Brandauer war die Parallele nicht zu übersehen. Die Interpretationen des alten, einsamen Königs haben sich seit 1606 ständig geändert, wie Ulla Kriebernegg herausarbeitet. Nach den ersten Aufführungen im 17. Jahrhundert musste das grausame Ende gestrichen und umgeschrieben werden, da die Zuschauer die Grausamkeit gegenüber König Lear nicht ertragen konnten. Thematisierte das Stück König Lear doch wie in einer Parabel, wie die Gesellschaft, wie der Hof mit dem Alter und alten Menschen umgehe. Das Erschlagen der nicht mehr arbeitstüchtigen Alten mit dem Bengel war kulturell überwunden. Auch dafür steht König Lear: Im Umgang mit den Alten zeigt sich die Kultur unserer Gesellschaft – so formulierte es Simone de Beauvoirs. Im 6. Altenbericht der Bundesregierung formulierten wir: „Eine Gesellschaft, die keinen Respekt gegenüber ihren Hochbetagten zeigt, hat keine Kultur.“ 

König Lear gehört zu den bedeutendsten Stücken Shakespeares und dies sicherlich nicht, weil man in dem Verhalten von König Lear eine Demenzdiagnose erkennen kann. Die tiefere Bedeutung des Stückes, die immer ihre gesellschaftliche und anthropologische Aktualität behält, ist der Umgang mit dem Alter, mit Vulnerabilität, mit Machtverlust, mit Einsamkeit und Trauer – und vor allen Dingen mit der Frage, wie man am Lebensende mit Entscheidungen, die man bereut, und mit tiefen Enttäuschungen umgehen kann. Andreas Kruse schreibt in seinem Buch „Leben in wachsenden Ringen“: „Verletzlichkeit ist ein Teil menschlichen Lebens.“ Sie ist ein Merkmal der conditio humana, der Bedingung des Menschseins. Diesem Thema stellt sich Shakespeare und haben sich auch viele Regisseure der Inszenierungen von König Lear gestellt. 

Links: "Leben in wachsenden Ringen" von Andreas Kruse, ISBN 978-3-17-042121-9; Rechts: "Der alte König in seinem Exil von Arno Geiger, ISBN 978-3446236349

Links: "Leben in wachsenden Ringen" von Andreas Kruse, ISBN 978-3-17-042121-9; Rechts: "Der alte König in seinem Exil von Arno Geiger, ISBN 978-3446236349

Das Stück eignet sich aber gut dafür, Altersfeindlichkeit und die kulturelle Konstruktion von Altersbildern aufzuzeigen. Lear wird zunehmend als ein seniler Griesgram beschrieben, der arrogant, herrschsüchtig und launenhaft ist. Der senile Alte wird in den neuen Inszenierungen zur Last. Das Publikum zeigt eher Empathie mit den Töchtern, die den alten, anstrengenden Vater versorgen müssen, als mit dem alten Mann selbst. Vom geschätzten und geehrten alten König, der von seinen Töchtern ausgetrickst und aus Verzweiflung über die Fehlentscheidung wahnsinnig wird, mutiert er zum zornigen, wirren Tyrannen und das neuerdings mit Demenz. Eine medizinische Diagnose über das Ringen um die Verletzlichkeit und die Fehlentscheidung im Alter zu fällen, hat nichts mehr mit einer zugewandten Sorgehaltung zu tun, die mehr und mehr gefragt ist. Besteht hier ein Zusammenhang mit dem von der Gesellschaft antizipierten und wahrgenommenen Pflegenotstand? 

Shakespeare geht mit König Lear in die gesellschaftlichen und anthropologischen Tiefen der Existenz und reflektiert dabei auch die Umstände, unter denen Menschen alt werden, Macht abgeben müssen, mit ihrer Verletzlichkeit leben lernen. Und er legt Charaktere frei, wie den von Edmund, der ausruft: „Natur, du bist meine Göttin, warum soll ich Bastard nicht an der Macht teilhaben?“ „Götter setzt euch für die Bastarde ein“, ruft er weiter und Peter Sloterdijk findet sich in seiner Aussage wieder, „die Moderne sei die Zeit, in der die Wünsche durch ihr Wahrwerden uns das Fürchten lehren“. Er schieb einen Begleittext zur König Lear Aufführung am Hamburger Thalia Theater. Die kulturell und von Respekt freigesetzten Machtinteressen, sie waren und sind das Hintergrundthema von König Lear – und in der Tat mit erschreckender Aktualität. Das Stück, das so freundlich beginnt, endet im Untergang, in den alle mitgerissen werden.

Es gibt auch ganz andere Rezeptionen von König Lear, nicht nur von Goethe mit seinem „Sturm und Drang“-Gedicht, das eher das Generationenverhältnis aufgreift. Arno Geiger hat in seinem Roman „Der alte König in seinem Exil“ – natürlich eine Anspielung auf König Lear – die Sorgebeziehung von Sohn zum Vater in den Mittelpunkt gestellt. Sie begegnen sich in besonderer Innigkeit, von der viele pflegende Angehörige berichten – auch ich kenne sie. Im Großen und Kleinen brauchen wir solche von Sorge und Respekt getragenen König-Lear-Adaptionen. Pathologisierungen sind auch Demütigungen und respektlos. Gleichwohl: Große Tragödien bleiben Tragödien. 

Text: Prof. Dr. Thomas Klie, erschienen in ALTERNOVUM 2/2024

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